LegasthenieEinführung

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Was ist Legasthenie?

Definition (nach WHO, ICD 10): Die Lese-Rechtschreibstörung ist dort definiert, als umschriebene Entwicklungsstörung des Lesens und Schreibens (biolog. Ursachen: Vererbung bzw. prä-, peri- und postnatale Ursachen, s.u.), d.h. nicht die Entwicklung allgemein, sondern nur spezifische Teilaspekte.
"Die Leseleistungen müssen unter dem Niveau liegen, das aufgrund der allgemeinen Intelligenz und der Beschulung zu erwarten ist... In der späteren Kindheit und im Erwachsenenalter sind die Rechtschreibprobleme meist grösser als Defizite in der Lesefähigkeit... Umschriebenen Entwicklungsstörungen des Lesens geht meist eine Vorgeschichte von Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache voraus... Die Störung wird in allen bekannten Sprachen gefunden, allgemein herrscht Unsicherheit darüber, ob ihre Häufigkeit durch die Art der Sprache und der Art der geschriebenen Schrift beeinflusst wird."

Wichtig: LRS sind ursächlich auf biologische Ursachen zurückzuführen, sind umgrenzt (nicht das gesamte Entwicklungsniveau eines Kindes ist beeinträchtigt) und zeitlich überdauernd.

Arten von Lese- und Rechtschreibproblemen

Lese- und Rechtschreibprobleme
vorübergehende Schwierigkeiten überdauernde Schwäche
vorübergehende Lese-Rechtschreibschwierigkeiten z.B. durch Krankheit, Schulwechsel, seelische Belastungen, Übungsmangel, Methodenfehler (zu rasches Fortschreiten im Unterricht) ausgeprägte Lese-Rechtschreibschwächen bei deutlich besseren Lernvoraussetzungen: Legastheniker Lese-Rechtschreibschwächen im Rahmen allgemeiner Minderbegabung
Schüler mit vorübergehenden Schwierigkeiten
sind für den Besuch einer Grundschule zwar nicht zu schwach begabt, haben aber bei knapp durchschnittlicher Intelligenz Schwierigkeiten mit dem Lesenlernen und dem Rechtschreiben, - kommen häufiger aus Elternhäusern, die nicht helfen können - haben i.R. keine Schullaufbahnprobleme, sofern sie lesen gelernt haben.
Die eigentlichen Legastheniker
müssen Teilleistungsschwächen kompensieren, laufen Gefahr, durch die Lese-Rechtschreibschwäche zunehmend auch in den Sachfächern nicht zurechtzukommen, da sie z.B. Textaufgaben  in Mathematik nicht lesen können.
Allgemein minderbegabte Schüler
lernen alle schulischen Fertigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen) schwer, - gehören einer sehr kleinen Gruppe an.
Helfen können ein konsequent durchgeführter, langsamer Leselehrgang und später ein zusätzliches Rechtschreibtraining. Legastheniker brauchen ein spezielles Training, das ihre jeweiligen Teilleistungsschwächen berücksichtigt, damit ihr Bildungsanspruch auf eine Schullaufbahn, die ihren intellektuellen Fähigkeiten entspricht, nicht gefährdet ist. Die für diese Kinder notwendige Hilfe findet sich in einem auf zwei Schuljahre gedehnten Leseunterricht in der Sonderschule (bzw. EK) oder Förderschule für allgemein Lernbehinderte (bzw. KKL)

LegasthenieHäufigkeit der Legasthenie

Man schätzt, dass 5 - 15% eines Jahrganges davon betroffen sind; die schwankenden Angaben sind darauf zurückzuführen, dass nicht immer Einigkeit darüber herrscht, ab wann eine "richtige" Legasthenie besteht, ob also nur die "schweren" oder bereits die "leichten" Fälle dazugerechnet werden sollen.

Verschiedene Legastheniefehler

Fehler Erläuterung
Wortbildschwäche Das Kind kann sich nicht erinnern oder kann sich nicht vorstellen, wie das Wort, das es schreiben möchte, aussehen soll; es kann sich sehr wohl "Wasser" denken, stumm vor sich hinsagen und wissen, was es bedeutet, aber wie es von dem Lautwort "Wasser" zu dem Schriftwort "Wasser" gelangen soll, das ist ein Hindernisrennen.
Lautunterscheidungsschwäche Das Kind kann die einzelnen Laute nicht aus dem Wort
heraushören ("Gicht" statt "Geschichte"), oder es kann ähnlich klingende Laute nicht unterscheiden (g-k, ü-ö).
Optische Differenzierungsschwäche Das Kind kann die kleinen visuellen Unterschiede nicht wahrnehmen (c-o. m-n, fein-kein).
Raumorientierungsschwäche Das Kind ist sich nicht sicher, wie der Raum nach oben / unten, rechts / links usw. aufgeteilt ist, welche Lage die Buchstaben haben (b-d, p-q, b-p).
Verbindungsschwäche Das Kind kann die Buchstaben nicht lautierend zusammenschleifen (Hund wird nicht zu "Hund" verschmolzen); auch der Übergang von Druck- zu Kursivschrift kann entsprechend schwerfallen.
Sequenzschwäche Das Kind kann nur schwer Reihen lernen und einhalten; es fällt ihm schwer, die Monate in Reihenfolge aufzusagen, das Alphabet oder das Einmaleins zu lernen, beim Hören, Lesen oder Schreiben die richtige Buchstabenfolge wahrzunehmen ("Schale" statt "Lasche", "Biene" statt "Beine", "Gärten" statt "Gräten").

Geschichte der Legasthenie-Forschung

Erste Phase der Legasthenieforschung: um die vorige Jahrhundertwende; Forschung erfolgte vornehmlich durch Mediziner, und zwar in Form von Einzelfalldarstellungen. Von Morgan & Hinchelwood stammt z.B. der Begriff angeborene Wortblindheit; da man bei den  Betroffenen keine anderen "Störungen" bemerkte, nahm man an, dass die Ursache in einem Defekt im "Lesezentrum im Gehirn" liegen müsste, deshalb auch der Begriff kongenitale Wortblindheit bzw. kongenitale Legasthenie.

Begriff Legasthenie 1916 von Budapester Neurologen Paul Ranschburg erstmals thematisiert. Da er diesen Begriff v.a. für leichte Fälle verwendete, während er schwere Fälle automatisch als Hilfsschüler abqualifizierte, wird dieser Begriff heute in der Forschungsliteratur eher vermieden, und statt dessen der Begriff  Lese-Rechtschreib-Störung verwendet. (In angloamerikanischer Literatur: Dyslexia oder reading disability).

Davon abzugrenzen ist die Lese-Rechtschreib-Schwäche: Diese Bezeichnung trifft auf Kinder zu, die vorübergehende Probleme beim Lesen und Schreiben haben, z.B. aufgrund eines Schul- und Wohnortwechsels, familiärer Probleme oder einer vorübergehenden psychischen Erkrankung. In den 60er und frühen 70er Jahren erlebte die Legasthenieforschung einen grossen Boom im deutschen Sprachraum. Grundlegend war damals die Auffassung, dass es qualitative Unterschiede gibt zwischen den Schriftsprachproblemen von Legasthenikern und Kindern mit allgemeinen Schulleistungsschwierigkeiten. Dadurch wurden spezifische Bedingungsmerkmale mit Legasthenie in Verbindung gebracht, die für allgemeine Lese-Rechtschreibschwächen nicht gelten oder für schulische Leistungen in anderen Bereichen als dem Schriftspracherwerb unwichtig sein sollten.

In den späten 70 Jahren erfolgte eine radikale Kritik am gängigen Legastheniekonzept, es gab methodische Kritik an der Legasthenieforschung. Es erfolgte eine abrupte Abkehr vom Legastheniekonzept, statt dessen gab es nur noch Kinder mit "Lese-Rechtschreibschwäche"; es wurde nicht mehr nach Ursachen unterschieden. Seit ca. 10 - 15 Jahren Renaissance der Legasthenieforschung, nicht zuletzt auch durch die neuesten Befunde und Möglichkeiten der Hirnforschung, die Erkenntnisse ermöglichte, die zuvor bestenfalls hypothetische Gedankenspiele waren.